Der Staat erlebt ein Comeback als wirtschaftlicher Akteur. In Krisen wie der Corona-Pandemie oder der globalen Finanzkrise sind die Regierungen gefragt, weil die Privatwirtschaft die Probleme oft nicht allein lösen kann. Doch ist ein starker Staat auch in wirtschaftlich normalen Zeiten die richtige Lösung? Lesen Sie dazu ein Interview mit Prof. Dr. Norbert Berthold, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und Initiator des Ökonomen-Blogs Wirtschaftliche Freiheit.
Markt und Mitte: Der Staat nimmt wieder eine aktivere Rolle in der Wirtschaft ein. Inwieweit ist das Comeback des „starken Staates“ gerechtfertigt?
Norbert Berthold: Markt und Staat leben in einem ambivalenten Verhältnis. Ohne Staat funktionieren private Märkte nicht. Er ist für den Ordnungsrahmen zuständig. Garantierte private Eigentumsrechte, individuelle Vertragsfreiheit und freier Marktzugang sind die wichtigsten Elemente. Nur der Staat kann sie installieren, er muss sie überwachen. Der Markt lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst schaffen kann. Für Ludwig Erhard ist der Staat der Schiedsrichter. Die wirtschaftlichen Akteure sind die Spieler. Ein „starker“ Staat, der einen effizienten Rahmen schafft, ist notwendig. Tatsächlich hat sich aber der Staat viel zu oft als Schiedsrichter verabschiedet. Er agiert immer öfter als Spieler, greift aktiv in das Spiel ein, operiert als „weitsichtiger“ Unternehmer, drängt Verbrauchern paternalistisch seine Vorstellungen auf, verteilt willkürlich zwischen Akteuren um, greift ungeniert in die Taschen der Steuer- und Beitragszahler und bürdet künftigen Generationen immer neue Lasten auf. Ein „starker“ Staat sollte als Schiedsrichter nicht als Spieler agieren.
Markt und Mitte: Wenn man eine Volkswirtschaft allein nach Effizienzgesichtspunkten organisiert, führt das unter den heutigen Gegebenheiten von Globalisierung und Digitalisierung zu einer ungleichen Einkommensverteilung. Was kann oder muss getan werden, damit die Akzeptanz für das Wirtschaftssystem bei den Bürgern nicht verloren geht?
Norbert Berthold: Das Verhältnis zwischen Effizienz und Verteilung ist nicht spannungsfrei. Weltweit offenere Märkte verstärken den Konflikt. Das gilt allerdings nur für die Verhältnisse in den Volkswirtschaften. Globalisierung und Digitalisierung tragen mit dazu bei, dass ärmere Länder gegenüber reicheren wirtschaftlich aufholen. Offenere Märkte erhöhen zwar den Wohlstand aller in den Ländern. Sie verstärken aber auch den strukturellen Wandel, die wirtschaftlichen Risiken und ökonomischen Ungleichheiten. Die Einkommen der Reicheren wachsen stärker als die der Ärmeren. Das stellt die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung in Frage. In sozialen Marktwirtschaften ist der Staat gefordert, den strukturellen Wandel sozial abzufedern und umverteilungspolitisch aktiv zu werden. Das reicht aber nicht aus. Die Akzeptanz der Marktwirtschaft wird erst wieder zunehmen, wenn sich die individuellen Chancen, wirtschaftlich aufzusteigen, spürbar erhöhen. Das ist nur möglich, wenn verstärkt in Humankapital investiert wird und Güter- und Faktormärkte offenbleiben.
Markt und Mitte: Die Frage „Mehr Markt oder mehr Staat?“ beschäftigt die Ökonomen seit Generationen. Dabei schlägt das Pendel in größeren Abständen mal in die eine und mal in die andere Richtung. Was ist für den Pendelschlag hauptverantwortlich: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse, wirtschaftliche Ereignisse (wie die Finanzkrise) oder schlichtweg ein sich wandelnder Zeitgeist?
Norbert Berthold: Der Trend ist seit langem eindeutig: Der Staat ist auf dem Vormarsch, der Markt auf dem Rückzug. Die Entwicklung der Staatsquoten lässt daran keinen Zweifel. Ein immer größerer Teil des Sozialproduktes geht durch die Hände des Staates. Das gilt für alle Länder weltweit. Allerdings wächst der Staat in einigen Ländern weniger stark, in anderen stärker. Er nutzt die knappen Ressourcen, die er gegenwärtigen und künftigen Generationen abknöpft, vor allem für konsumtive (soziale) Zwecke. Staatliche Investitionen spielen nur die zweite Geige. Die staatlichen Aktivitäten schwanken um diesen langfristigen Trend. Was diese Zyklen auslöst, ist nicht ganz klar. Viel spricht allerdings dafür, dass Demokratien eine inhärente Tendenz zu wachsenden Staatsausgaben und interessengruppenspezifischen Regulierungen haben. Damit ist aber der Keim für die nächste Krise gelegt. Wirtschaftliche Krisen erhöhen zwar kurzfristig die Staatsquote, stoßen aber auch notwendige marktöffnende Reformen an. Die Agenda 2010 ist hierzulande das beste Beispiel.
Weiterführender Text zu diesem Thema von Prof. Dr. Norbert Berthold: