» Wirtschaft & Politik
Shareholder- vs. Stakeholder-Kapitalismus
„The social responsibility of business is to increase its profits.“
– Milton Friedman, Nobelpreisträger für Wirtschaft
Die Marktwirtschaft gerät manchmal ins Zwielicht, weil die Gewinnerzielungsabsicht zuweilen ausartet. Wenn Unternehmen allein die finanzielle Rendite im Auge haben und dabei – wie in einem Tunnel – ausblenden, welche Schäden sie mit ihrem Handeln etwa an der Umwelt anrichten oder welche Lasten sie ihren Mitarbeitern aufbürden, stößt das in der Gesellschaft zurecht auf Unverständnis und Ablehnung.
Meistens stammen die Extrembeispiele für rigorose Renditejagd von den Finanzmärkten. Dort werden Fehlentwicklungen begünstigt, weil Erfolg und Misserfolg oft an sehr kurzfristigen Kennzahlen wie Quartalsergebnissen gemessen werden – ein gewaltiger Kontrast zu langfristig ausgerichteten, mittelständischen Familienunternehmen. Außerdem geht es an den Finanzmärkten sehr anonym zu. Die Folgen einer blinden Renditejagd für die Umwelt oder für die Menschen, die möglicherweise ihren Arbeitsplatz verlieren, werden den Finanzmarktakteuren oft nicht direkt bewusst. Während sich der Erfolg in Zahlen messen lässt und sich klar erkennbar auf dem Konto zeigt, fallen die negativen Nebenwirkungen nicht direkt und nicht sofort auf. Die gesellschaftliche Verantwortung des eigenen Handelns gerät damit gelegentlich aus dem Blick.
Typischerweise werden Exzesse an den Finanzmärkten von Kritikern mit Begriffen wie „Raubtier-Kapitalismus“ belegt. In Deutschland prägte Franz Müntefering den Begriff „Heuschrecken“ für Hedgefonds und andere Finanzunternehmen, die sich der kurzfristigen Gewinnmaximierung verschrieben haben. Etwas weniger abwertend wird in Fachkreisen vom „Shareholder-Kapitalismus“ gesprochen.
Die „Shareholder Value“-Orientierung, von der die Börsen in den vergangenen Jahrzehnten geprägt waren, geht auch auf das obige Zitat von Milton Friedman im Jahr 1970 zurück. „Shareholder Value“ ist das Etikett für ein Konzept, bei dem das unternehmerische Handeln primär oder ausschließlich an den finanziellen Interessen der Unternehmens- oder Anteilseigner (Aktionäre) ausgerichtet ist: Gewinnmöglichkeiten sind im Rahmen der bestehenden Gesetze zu realisieren, ganz gleich, was die damit verbundenen Entscheidungen für Mitarbeiter, Kunden, die Gesellschaft oder die Umwelt bedeuten – so ist die weit verbreitete Lesart des Shareholder Value-Konzepts.
Der „Shareholder-Kapitalismus“ steht nun aber unter massivem Druck. Als Mitte August 2019 der amerikanische Wirtschaftsverband Business Roundtable forderte, der Shareholder solle künftig nur noch einer unter mehreren Anspruchsberechtigten sein, wurde dies in vielen Medien als Zeitenwende gefeiert. „Stakeholder-Kapitalismus“ statt „Shareholder-Kapitalismus“ war die Botschaft. Als Stakeholder werden alle Personengruppen bezeichnet, die ein berechtigtes Interesse an dem Vorgehen eines Unternehmens haben – also nicht nur die Aktionäre.
Unternehmen sollen es künftig schwerer haben, finanzielle Werte zu mehren, wenn sie dabei die gesellschaftlich verankerten ethisch-moralischen Werte nicht angemessen berücksichtigen. Neben den Interessen der Shareholder sollen auch die Interessen der übrigen Stakeholder berücksichtigt werden: die Umwelt, die Mitarbeiter, die Kunden, die Lieferanten, aber auch die Gesellschaft, in der das jeweilige Unternehmen tätig ist.
Die Interpretation einer Wachablösung des Shareholder- durch den Stakeholder-Kapitalismus ist in Teilen deutlich überzogen. Denn tatsächlich ist es nur ein recht kleiner – wenn auch medial präsenter – Teil der Wirtschaft, der sich so kaltblütig verhält, wie es der Begriff des Raubtier-Kapitalismus suggeriert. Der Markt hat ungeheure Selbstheilungskräfte. Rücksichtsloses Verhalten wird in vielen Fällen über kurz oder lang am Markt abgestraft. Es ist ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft, die Interessen der eigenen Mitarbeiter, der Kunden und des gesellschaftlichen Umfelds zu berücksichtigen. Langfristig orientierte Unternehmen sorgen aus eigenem Antrieb für einen Ausgleich der Interessen. Es ist nicht klug, Kunden zu übervorteilen, nur weil sich daraus ein kurzfristiger Gewinn realisieren lässt. Kluge Unternehmer verzichten auf den kurzfristigen Gewinn, wenn sonst eine langfristige Kundenbeziehung aufs Spiel gesetzt wird. Die deutsche Wirtschaft ist mittelständisch geprägt. Über 99 % aller Unternehmen sind kleine und mittelgroße Unternehmen, bei denen rund 60 % aller Beschäftigten arbeiten. Ihnen sind die Auswüchse des sogenannten Raubtier-Kapitalismus zumeist völlig fremd.
Die großen, oft börsennotierten Unternehmen haben sich unter dem Begriff Corporate Social Responsibility in den vergangenen zwei Dekaden praktisch durchweg ihrer gesellschaftlichen Verantwortung verpflichtet. Fast alle Großunternehmen weisen auf ihren Websites prominent auf ihre Aktivitäten im Bereich Nachhaltigkeit, gesellschaftliche oder soziale Verantwortung hin. Die Erkenntnis, dass ein Unternehmen mehr leisten muss als nur den kurzfristigen Gewinn zu maximieren, ist längst in der heutigen Unternehmenskultur verankert.
Die Frage, ob der Shareholder- vom Stakeholder-Kapitalismus abgelöst werden sollte, geht also in weiten Teilen an der Wirklichkeit der deutschen Wirtschaft vorbei. Hierzulande wird der Stakeholder-Kapitalismus unter dem Begriff „soziale Marktwirtschaft“ längst praktiziert. Die Vorteile des wettbewerbsorientierten Marktes werden hier von vornherein mit den Vorzügen des sozialen Ausgleichs und der gesellschaftlichen Stabilität verbunden.
Deutschland braucht deshalb keine Systemfrage. Fehlentwicklungen, die es natürlich auch in der sozialen Marktwirtschaft gibt, müssen aufgespürt und punktuell beseitigt werden. Dort, wo sich Fehlentwicklungen verfestigen, sind meist falsche Anreizstrukturen im Spiel. So ist in einer Welt der Quartals- und Jahreszahlen nicht immer Platz für langfristiges Denken und Handeln. Deshalb gilt es, die Anreize für langfristig orientiertes Wirtschaften zu stärken. Die mittelständisch geprägte deutsche Wirtschaft kann hier durchaus als Vorbild dienen.
Doch selbst in den USA ist die Stakeholder-Orientierung nicht so neu, wie man vermuten könnte. Milton Friedman hat den Text, aus dem das Eingangszitat stammt, vor 50 Jahren für das New York Times Magazine geschrieben. Der Text war gegen die damaligen Manager gerichtet, die sich nach Friedmans Einschätzung zu wenig um die Interessen der Shareholder und zu sehr um die Interessen sonstiger Anspruchsgruppen kümmerten. Wenn jetzt wieder vermehrt über die Stakeholder gesprochen wird, ist es eher eine Rückbesinnung auf Werte, die vor 50 Jahren selbst im Mutterland des Kapitalismus weit verbreitet waren. Doch letztlich muss klar sein: Der richtige Weg muss ständig neu austariert werden. Überziehen die Unternehmen mit ihrer Gemeinwohlorientierung und verlieren die wirtschaftlichen Aspekte im engeren Sinne aus dem Blick, dann leiden Effizienz und Konkurrenzfähigkeit. Wenn das Pendel zu stark ausschlägt, wird es erneut jemanden wie Milton Friedman brauchen, der die Unternehmen an ihre Kernaufgaben erinnert.